Israel 2013

«Come experience the desert» – unter diesem Motto veranstaltete Servas Israel ein internationales Treffen mitten in der Negev-Wüste. Über 60 Servas-Gäste aus aller Welt wurden im Kibbuz Sde Boker von gut 10 israelischen Servas-Gastgebern (die ihrerseits mehrheitlich Gäste in Sde Boker waren) empfangen und betreut. Sie sowie der Kibbuz nahmen uns sehr gastfreundlich auf, und ich beginne meinen Bericht mit einem sehr herzlichen Dank für die gewaltige Arbeit (schon in der Vorbereitung, dann auch während unserer Anwesenheit) sowie für die Bereitschaft, auf unsere Anliegen einzugehen.

Hier folgen einige kaleidoskopartige Eindrücke von diesem Treffen, aber auch von meiner individuellen Reise vor- und nachher: Ich verbrachte zwei «Servas-Nächte» in Tel Aviv, zweieinhalb Tage im Westjodanland sowie schliesslich anderthalb Tage bei israelischen Freunden, die mich als Junge mit meiner Familie 1974 durchs Land geführt hatten. Für die täglichen Aktivitäten während des Camps verweise ich auf den Bericht von Claudia Sagi, der Organisatorin und Sekretärin von Servas Israel. Er ist auf israel.servas.org (unter «News and events») abrufbar.

  • Israel ist ein Land im Spagat zwischen Herkömmlichem (im Wortsinn: ursprünglich hauptsächlich von Europa sowie aus ein heimischer Kultur – Beduinen, Araber – «hergebracht», dann zunehmend aus anderen Kulturen) und ganz Neuem. 
  • Dies zeigt sich unter anderem in der Art, wie Forschung über landwirtschaftliche Möglichkeiten in der Wüste Negev «von Null auf» neu angegangen wird.
  • Auf Schritt und Tritt stiessen wir auf historisch und religiös bedeutsame Stellen. Durch den grossen Grabenbruch Maktesh Ramon, der den Negev diagonal zum Toten Meer durchzieht, könnte beispielsweise Moses sein Volk aus Ägypten zurückgeführt haben.
  • An einem Abend hätte sich der palästinensische Professor Naim Dour zu einem Gedankenaustausch zu uns gesellen sollen. Da er aber infolge der von Israel verhängten Ausgangssperre in Hebron «festgenagelt» war, konnte dieses Gespräch nur über Skype stattfinden, was naturgemäss sperrig und weniger informativ war. (Über den Anlass dieser Ausgangssperre vernahmen wir zwei Versionen: Unsere israelischen Gastgeber erzählten, ein palästinensischer Junge sei im Gefängnis an Krebs gestorben – die später angetroffenen Palästinenser führten den Tod auf Folter im Gefängnis zurück; jedenfalls befürchtete die israelische Besatzungsbehörde anlässlich der Trauerzeremonien Aufruhr und verhängte diese Ausgangssperre.)
  • Darum baten einige Gäste um eine Diskussion zum Thema «Wie können wir dem ursprünglichen Servas-Gedanken nachleben und zum Frieden beitragen?». Die meisten Servas-Mitglieder erschienen dabei persönlich sehr engagiert; sie wollten zu einer friedlicheren Welt beitragen. Ich erwähne einige Erkenntnisse aus dieser Diskussion, ergänzt durch Ansichten, die ich von Israelis bei andern Gelegenheiten gehört habe:
  • Einige israelische Servas-Mitglieder unterstellten, wir würden durch unsere Medien einseitig informiert.
  • Israelische Gesprächspartner haben (vielleicht deshalb) Hemmungen, sich auf politische Diskussionen mit Europäern einzulassen; dies habe ich auch auf meiner anschliessenden individuellen Reise festgestellt.
  • «The wall» ist ein Reiz-Begriff, der einige Gastgeber sofort in Verteidigungs-, ja sogar Gegenangriffsposition gehen liess – als ob eine Grenzmauer per se abscheulich wäre (und nicht bloss ihre Lage jenseits der grünen Grenze, also gemäss UNO-Resolutionen auf palästinensischem Boden).
  • Uns wurde gesagt, seit Errichtung der Mauer seien die Anschläge massiv zurückgegangen.
  • Einige Gastgeber berichteten aus eigener Erfahrung, wie eingeschränkt ihr Leben in Raketenreichweite ist – je näher am Gaza-Streifen, desto schlimmer: häufige Alarme («ab in den Schutzraum»); eine Frau geht mit ihrem Grosskindern nur nach vorheriger Erlaubnis derer Eltern draussen spazieren.
  • Viele israelische Familien haben Tote aus den bisherigen Konflikten zu beklagen.
  • Orna erzählte uns die Geschichte ihres (männlichen) Stammbaums seit den Kreuzzügen – eine fast ununterbrochene Abfolge von Verfolgung und Exil.
  • «At school, they teach children to hate us.» (Mein späterer Besuch im geteilten Hebron lässt mich vermuten, dass sich dieser Hass ganz von selber einstellt.)
  • «Es scheint, dass in europäischen Augen nur ein schwaches Israel ein gutes Israel ist.»
  • Die «demografische Keule» macht vielen Israelis Angst: Palästinenserfamilien haben im Durchschnitt etwa 5 Kinder, israelische 3. (Ich persönlich ziehe daraus den Schluss, dass es dringend wäre, vor der «palästinensischen Bevölkerungsexplosion» zu einem stabilen Frieden zu gelangen.)
  • Die Furcht vor unstabilen Verhältnissen wurde angesprochen: Man hätte gerne einen verlässlichen und im eigenen Volk verankerten Gesprächspartner, mit dem man Abkommen treffen kann, die dann auch langfristig eingehalten werden. (Ägyptens vertragsgemässe Gaslieferung an Israel sei beispielsweise seit dem dortigen politischen Wechsel nicht mehr sichergestellt.)
  • Die Meinungen gingen auch auf israelischer Seite weit auseinander. Mit oben durchscheinender Haltung kontrastierte zum Beispiel der Bericht einer älteren Israelin, die in einer israelischen Friedensorganisation aktiv ist und in diesem Rahmen an Checkpoints im Turnus «Wache» hält, um bei Bedarf deeskalierend und überdies als «Auge der Öffentlichkeit» zu wirken.

Nach der herzlichen Verabschiedung reiste ich nach Jerusalem, wo ich zwei Halbtage verbrachte; mir fiel auf, wie nahe die Welten in der Altstadt beieinander liegen: christliche Kirchenglocken vermischen sich mit Muezzin-Rufen; vom stillen armenischen Viertel bis zum geschäftigen arabisch-muslimischen Suk sind es drei Minuten.

Per palästinensischen Bus gelangte ich – ohne Halt in den Grenzkontrollanlagen – nach Beit Jala, einem Städtchen in der Nachbarschaft Betlehems. Am Strassenrand sah ich ein grosses rotes Warnplakat in 3 Schriften: «This road leads to Area ‹A› under the Palestinian Authority. The entrance for israeli citizens is forbidden, dangerous to your lives and is against the israeli law.» Israeli können sich also nicht mit eigenen Augen ein Bild vom Gegenüber machen – ebenso umgekehrt, siehe weiter unten.

Hier folgt ein Ausschnitt aus dem Bericht von Inken Resa-Thomas, einer deutschen Teilnehmerin am Servas-Treffen, über unser Gespräch mit dem Palästinenser Professor Naim Daour mit Frau Rana und Freund Nadeem:

On Monday April 8th we met in a guesthouse in Beit Jala (…)

Naim is an engineer, and he studied Peace and Conflict Solution in the United States. Currently he works as assistent for the president of the university of Hebron. Rana was born in Saudi Arabia, grew up and was educated as nurse in Dubai and came to Hebron when she got married to Naim. She works as a teacher of arabic for the doctors and nurses of «Médecins sans frontiers» (Doctors without borders) that work in the Palestinian Territories.

Naim and Rana informed us about the difficult situation of the people that live in the Palestinian Territories, about the wall, the curfews, the hatred, the water shortage. Their friend told us how difficult it is for him to visit Israel and the rest of the world though he has a permit to go to Israel twice a year (being Christian he can get the permit for Christmas and Easter – but often he doesn’t know in advance whether he gets it or not). Rana told us how difficult it was for her and their three children when soldiers and tanks were in the streets of Hebron during the second Intifada – they hid under a table not to be shot, and there was lot of fear for life.

Naim also informed us about his activities in a peace organization and his attempts to rise the number of Servas members in Palestine. He told us that his family hosts ten to twenty Servas travellers per year.

Auf Naims Einladung reisten Peter Inzenhofer, ein Münchener Servas-Meeting-Teilnehmer und Spiele-Entwickler, und ich am folgenden Tag mit lokalen Verkehrsmitteln via Betlehem (kurzer Besuch auf dem Suk und in der touristisch überlaufenen Geburtskirche) nach Hebron. Rana stellte ein ausgezeichnetes Abendessen auf, und Peter spielte mit uns allen, inklusive Daours drei Kindern. Dabei lernten wir uns und unsern Background gegenseitig näher kennen. Am späteren Abend wurden wir noch zu Verwandten geführt, wo es erneut gemütlich und humorvoll herging; schliesslich wurden wir Mohammed, einem jungen Freund der Familie, zum Übernachten «weitergereicht»; Daours hatten im Moment keine Möglichkeit, uns zu beherbergen. Nach einer Nacht unter einfachsten Verhältnissen gingen wir mit Mohammed und Schareef, Mitbewohner und Freund, frühstücken. Hussain, ein weiterer Freund, gesellte sich dazu, und beim Ausprobieren von Peters Spielen lockerte sich die Atmosphäre – wie später beim Tee und Shisha-Rauchen, so dass ein persönlicher Meinungs- und Erfahrungsaustausch möglich war. Mittags wurden wir – Mohammed hatte sich inzwischen zur Arbeit verabschiedet und wurde später durch Yousef, einen weiteren Bekannten, «ersetzt» – über den Suk geführt. Auf der einen Strassenseite sind die Häuser im Parterre von palästinensischen Läden belegt, ab dem ersten Stock jedoch nach 1967 von israelischen Wohnungen, die von der rückwärtigen Strassenseite her erschlossen sind, weshalb die dortigen palästinensischen Läden geschlossen wurden. Zur Abwehr von Hass und heruntergeworfenem Abfall ist ein Drahtgitter über der Suk-Strasse montiert. Nach dreifacher Kontrolle (etwa wie am Flughafen; unseren Begleitern wurden ihre Pässe für die Dauer des Besuchs abgenommen) gelangten wir auf muslimischer Seite in die Moschee, wo Abraham (der «Urvater» aller drei ansässigen Religionen!) begraben sein soll. Von der andern Seite blickten hinter dem trennenden Panzerglas Juden auf denselben Schrein. Unsere Begleiter betonten, dass Palästinenser nur an 10 speziellen Feiertagen pro Jahr die ganze Moschee (inkl. «israelischer Seite») für sich benützen könnten, die Juden dagegen zweimal wöchentlich – und blendeten dabei aus, dass der Schrein der für Juden sehr bedeutsamen Sarah auf dem «palästinensischen Teil» steht, während offenbar auf israelischer Seite nichts für Muslime Bedeutsames «begraben» liegt (meine zweimalige Frage danach wurde jedenfalls nicht beantwortet). Ebenso zogen sie nicht in Betracht, dass die Juden bis 1967 mehr als ein Jahrtausend lang diese für sie heilige Stätte überhaupt nicht besuchen konnten.

Auf dem Rückweg durch die israelischen Kontrollanlagen wurde Schareefs Pass noch einbehalten und erst nach 10 Minuten Warten zusammen mit einem ausgedruckten Aufgebot zur Einvernahme in seiner Heimatstadt Jenin ganz im Norden zurückgegeben. Offenbar sind alle diese Kontrollposten elektronisch untereinander vernetzt und mit einem zentralen Polizeicomputer verbunden. Dies sei seine dritte Einvernahme, sagte uns Schareef.

Bei einem Tee- und Shisha-Aufenthalt in einem Café voller Männer brach die Bitterkeit des «besetzten Volks» in der Diskussion auf, und extreme Ansichten wurden geäussert. Yousef behauptete, es sei weissagt, dass das ganze Land schliesslich den Palästinensern gehören werde. – «And what about the Israelis?», fragten wir. – «They will end». Auf die Frage, was dies für unsere israelischen Freunde bedeute, und dass einige von ihnen mit umgekehrten Vorzeichen genau dasselbe (sowohl bezüglich Weissagung wie betreffend das Schicksal des Nachbarvolks) sagen würden, wurde Youssef weicher und wich von seiner doktrinären Haltung ab.

So nahmen wir schliesslich im Frieden, aber ziemlich erschöpft Abschied und fuhren vom zentralen Busbahnhof im billigen Linientaxi nach Betlehem, wo der palästinensische Bus nach Jerusalem schon wartete. An der Kontrollstelle mussten alle Palästinenser aussteigen und in Einerkolonne warten, um ihren Pass zu zeigen. Alle andern dagegen wurden im Bus kontrolliert. Die junge israelische Grenzbeamtin hatte ein offenes Gesicht und war zu uns freundlich und höflich, ja gar humorvoll-fröhlich. Diese Tonlage liess sie nur wenig fallen (auf etwa «höflich-neutral») gegenüber den palästinensischen Passagieren – ein Kontrast zu den Kontrollsoldaten an der Abraham-Moschee, die uns ein sehr gelangweiltes und unsern palästinensischen Begleitern ein eher angeekeltes Gesicht zeigten.

Während meiner ganzen Reise entdeckte ich kaum etwas, worin ich durch unsere Medien («Der Bund» und «NZZ») tendenziös oder falsch informiert worden wäre, ausser der Tatsache, dass in kleinen Karten der Abstand zwischen grüner Linie und den israelischen Sperranlagen auf palästinensischer Seite proportional zu gross gezeigt wird. Darüber hinaus kollidierte nichts von dem, was uns unsere israelischen Gastgeber und palästinensischen Begleiter sagten und zeigten, mit einem «falschen Stereotyp» meinerseits, sondern vertiefte und ergänzte bereits Vorhandenes. Hingegen ist es offensichtlich, dass Israeli und Palästinenser über gleiche Situationen oder Ereignisse völlig unterschiedlich informiert erscheinen. Wie weit dies bewusst durch ihre Medien so gesteuert wird und nicht einfach widersprüchliche Informationen beim «Speichern» ausgeblendet werden, kann ich nicht beurteilen.

Der auf der Servas-Israel-Tasche aufgedruckte Anspruch «eye-opener to the real world» wurde erst durch meinen Besuch im Westjordanland vollständig eingelöst. Der persönliche Augenschein und die eingehenden Gespräche liessen mich viele bereits bekannte Schwierigkeiten besser begreifen.

Lösungen können wohl nach so langer Zeit der Spannung und des Misstrauens nur noch von aussen eingebracht werden; akzeptiert werden müssen sie hingegen durch beide Völker und ihre Regierungen. Jeder Gedankenaustausch mit unvoreingenommenen Gästen kann ein allerkleinstes Scherflein dazu beitragen.

Thun, 19.4.2013
Christoph Kuhn