Norwegen im Sommer 2010

Vorbemerkung

Die Idee, Norwegen teils mit dem öffentlichen Verkehr, teils mit dem eigenen Fahrrad zu bereisen, erwies sich als schwieriger als gedacht: Der Veloverlad ist im Zug teuer und in ICs voraus zu reservieren, in Bussen nicht immer  möglich (wenn auch häufig); die Distanzen sind gross, vor allem in den interessanteren Gegenden – und das Wetter spielte im August 2010 überhaupt nicht mit; zudem irrte sich die Wettervorhersage immer wieder fundamental. (Dies sei dieses Jahr eine Ausnahmeerscheinung gewesen, wurde mir gesagt.)

So war ich darauf angewiesen, meine Pläne fast von Tag zu Tag ändern zu können, was sich auf meine Servas-Anknüpfungen hinderlich auswirkte.

Allgemeine Beobachtungen

Das öffentlich sichtbare Leben scheint – sogar in der Hauptstadt – etwas gemütlicher abzulaufen als bei uns; etwa so wie bei uns vor 20, 30 Jahren; vermutlich wird dabei jedoch in vielen Belangen die gleiche «Effizienz» erreicht wie mit unserem irren Tempo.

Obwohl sich die Mehrzahl der NorwegerInnen im Süden «zusammendrängt», ist auch das dortige Land sehr dünn besiedelt. Die Infrastruktur ist trotzdem sehr gut ausgebaut. Es hat ein dichtes Bus-Netz (in der Telemark zum Beispiel auf Nebenlinien 2–5 Verbindungen pro Tag, auf Hauptlinien bis zu stündlich); der Fahrplan ist jedoch je nach Region unter einer anderen Adresse abrufbar.

Die Distanzen sind riesig. Eine Ost-West-Durchquerung im Intercity dauert mehr als einen halben Tag, im Linienbus noch länger. Von Nord-Süd-Verbindungen nicht zu reden!

Norwegen ist zwar reich seit dem Erdöl-Boom; dies zeigt sich aber noch nicht unbedingt im Alltag: Die Regierung legt einen grossen Teil des Gewinns aus dem Erdöl langfristig an «für weitere Generationen»; so zahlen die NorwegerInnen hohe Steuern – und akzeptieren dies erstaunlich klaglos im Vergleich zum Gejammer der eigentlich privilegierten Schweizer. Vielleicht spielen hier die guten, seit langem etablierten Sozialleistungen des Staates eine Rolle; oder auch, dass sich das «skandinavische Modell» schon sehr lange bewährt hat: massiv kleinere Lohnschere, grössere Solidarität zwischen den Klassen, Zwang zu staatlich gelenkter Mittelverteilung beim Wiederaufbau der kriegszerstörten Gegenden und Industrien nach dem 2. Weltkrieg.

Die Lebenshaltungs-Kosten sind sehr hoch. Auch die Angebote für Touristen sind teuer (Hotels, Restaurants, Lebensmittel, Reisekosten). Die Quote an Doppelverdiener-Familien ist vermutlich höher als bei uns.

Die Versorgung mit Computern, Internet, W-Lan etc. ist dicht, auch in den Hotels.

Die Substanz der Industrie- und älteren Wohnbauten ist billiger als bei uns und sieht auch billiger aus – zum Beispiel hässliche Grossverteiler-Zentren an Ausfallachsen, denen gegenüber unsere fantasielosesten Discounter-«Schachteln» noch architektonisch pfiffig wirken.

Die Grossverteiler haben die regionale Versorgung und den Absatz regionaler Produkte deutlich mehr vergiftet als bei uns: Während bei uns «aus der Region – für die Region» (wenn auch mit oft verlogen grosser «Region») immer mehr Zuspruch findet, fand ich zum Beispiel während der Zwetschgen-, Erdbeeren- und Kirschenernte im nördlichsten Anbaugebiet Europas, am Hardangerfjord, frische Früchte nur in Selbstbedienungskabäuschen an der Strasse; unterdessen boten die Grossverteiler (meist internationale Ketten) nur in Plastik verschweisste Früchte fast ausschliesslich aus Regionen ausserhalb Europas an.

Norwegen ist daran, ein landesüberspannendes Velonetz einzurichten. Die Dichte an Information und speziellen Routen der Schweiz wird dabei noch bei weitem nicht erreicht. Mit viel Glück fand ich eine Karte aller nationalen Velorouten, nur auf Norwegisch betextet, in der zentralen «Syklistenes landsforening» in Oslo, deren Büro wenige Stunden pro Woche offen hat. Die Markierung im Gelände schwankt noch zwischen hervorragend (Telemark-Kanal) und fast ganz abwesend. Angesichts des dünnen Strassennetzes in dünner besiedelten Gebieten kommt man gelegentlich nicht umhin, auf der Hauptstrasse zu radeln.

Servas-Erfahrungen

Angesichts meiner Fortbewegungsart (partiell per Velo) und des schlechten Wetters konnte ich kaum mehr als einige Tage zum voraus «Termine buchen». Die meisten Servas-Mitglieder wohnen im Süden in grösseren Zentren oder deren Umgebung. Ich hätte gerne an ca. 5 Orten bei Servas-Familien übernachtet. Einige Adressen waren aber nicht mehr aktuell («kein Anschluss unter dieser Nummer»), andere nicht besetzt (Ferienzeit), wieder andere lehnten eine Beherbergung ab.

Schliesslich wurde ich in Oslo und in Stavanger sehr herzlich aufgenommen. In Oslo bot mein Besuch der Gastgeberin ein willkommenes Deutsch-Training; umgekehrt merkte ich in Stavanger, wie dünn mein Englisch mit den Jahren ohne Anwendung geworden war.

An beiden Orten spürte ich, dass wir auf eine gemeinsame europäische (und Servas-) Kultur zurückgreifen können: Der Kontakt gestaltete sich problemlos, die «Grenzen» mussten nicht markiert werden. An beiden Orten wurde mir mit weit ausholender Handbewegung in der Küche bedeutet, dass ich mich nach eigenem Ermessen bedienen könne, die Dinge aber auch selber suchen müsse; das übernehme ich für unsere Gastgeberrolle. Beide Gastgeberinnen hoffe ich wiederzusehen – eventuell in der Schweiz.

Das Gefühl, gemeinsam an etwas Grösserem mitzutragen, vertiefte meinen Servas-Kontakt, auch wenn wir nicht gezielt «am Weltfrieden woben».