Erinnerungs-Splitter
In der ersten Augustwoche 2003 nahm ich als «normales» Servas-Mitglied erstmals an einer Sommer-Universität teil. Diesmal fand sie in Polen statt, im gut eingerichteten Pfadfinder-Zentrum Perkoz am idyllischen Pluski-See nahe Allenstein/Olsztyn. Wir befanden uns in geschichtsträchtigem Land, und das schimmerte in einigen Präsentationen durch. Hier lebten verschiedene Völker seit über 1000 Jahren ineinander verzahnt – meist friedlich, wenn nicht ihre Herrscher mit anderen in Streit gerieten. Das Schicksal sandte aber auch ebenso lange immer wieder Gewalt und Unterdrückung in diese Gegend: Pruzzen, die deutschen Ordensritter, Schweden, Russen, Preussen herrschten reihum; bis 1945 gehörte das Gebiet dann zu Ostpreussen und wurde von der deutschen Oberschicht verwaltet (Gräfin Dönhoff stammte aus dieser Gegend).
Hitlers Verbrechen in Osteuropa verursachte schliesslich die «Verschiebung» der polnischen Grenzen nach Westen und damit die endgültige Vertreibung der meisten Deutschen. Auch Juden gibt es kaum mehr – der Holocaust wütete hier und weiter östlich am gründlichsten.
Heute kommen Nachfahren der ehemals Vertriebenen oder Ermordeten als Touristen zurück in die Heimat ihrer Eltern oder Grosseltern. Und auch unter den Servas-Teilnehmern gab es Deutsche, Israeli, Polen – der Servas-Gedanke konnte sich hier gleich direkt bewähren. Beiläufig vernahmen wir, dass die Gründerin von Servas Polen mit dabei war, die noch zu kommunistischer Zeit nicht als Servas-Mitglied, sondern nur als «gute Bekannte» besucht werden durfte. Wehe, wenn man um Auskunft über diese gute Bekannte gebeten wurde… Heute sind diese bedrückenden Verhältnisse zum Glück Vergangenheit und nicht mehr spürbar.
Täglich konnte man aus verschiedenen Angeboten auswählen: Die idyllische See- und Waldgegend zu Fuss oder per Velo erkunden, polnisch lernen, italienisch kochen, Origami herstellen, segeln, rudern, Volleyball spielen… oder auch einmal einen halben Tag nur am Strand plegern und das nordisch anmutende Abendlicht ennet dem See «einsaugen».
Mehrere freiwillige Ausflüge führten uns in die herausgeputzte Altstadt von Allenstein, nach Marienburg/Malbork in die gewaltige Burgresidenz der Ordensritter, in den «Ballenberg» (Skansen) von Olsztynek, zur heiligen Wunderquelle von Gierzwald mit anschliessendem Folkloreabend zu deftiger regionaler Kost – oder auch in Hitlers zerstörtes Bunker-Hauptquartier nahe Rastenburg (Gierloz): eine eher makabere «Touristenattraktion».
Viel Zeit blieb für Kontakte mit andern: Die internationale Zimmercrew (zum Beispiel teilten ein Israeli, ein Spanier und ein Belgier mit mir das Zimmer), in wechselnden Tisch-Gruppen, an der Bar, bei Freizeitaktivitäten sowieso…
Grosses Lob gebührt der polnischen Organisation: Alles klappte oder wurde effizient und flexibel «eingerenkt», man wurde äusserst zuvorkommend und persönlich auf- und ernstgenommen – auch mit individuellen Bobooli (Intello-Individualisten sind wohl das schwierigste Publikum…). Ohne die exzellenten Sprachkenntnisse wäre vieles mühselig gewesen (zum Beispiel, wenn Führungen in (zu) grossen Gruppen von Polnisch auf Englisch und dann auf Deutsch übersetzt werden mussten.)
Schliesslich bot dieser Anlass auch Gelegenheit, auf der An- oder Rückreise bei Servas-Gastgebern echte Einblicke in den heutigen polnischen Alltag zu gewinnen!
Fazit: Diese Sommer-Universität brachte bei lockerem Programm und Leben viele persönliche Kontakte, Einblicke ins «Servas-Familienleben» anderer Länder, neue Ideen. Ein anderes Mal könnte man versuchen, auch für «Otto Normalverbraucher»-Mitglieder eine oder zwei Informationsveranstaltungen über Neuerungen bei Servas anzubieten – wenn «hohe Tiere» schon da sind.
Insgesamt aber noch einmal: Dziękuję («Dschienkuje») – Herzlichen Dank allen, die so viel Energie und Zeit in diese Woche gesteckt hatten!
Olsztynek/Polen 2003
Christoph Kuhn